Sag nicht, wer du bist! (Xavier Dolan, Psychothriller, Drama, Frankreich, Kanada, 2013)
Heute ist es, als würde ein Teil von mir Sterben, und es gelingt mir nicht zu weinen. Ich habe die Worte vergessen mit denen man sie umschreibt „Die Trauer“.
Jetzt, ohne dich, ist alles was uns bleibt, dich zu ersetzen.
Dieses sind die Worte von Tom (Xavier Dolan), welche er ganz zu Beginn des Films Sag nicht, wer du bist! leise vor sich hinflüstert, während er sie auf ein Papiertaschentuch schreibt. Der Frankokanadier Xavier Dolan, welcher schon mit vier Jahren das erste Mal vor der Kamera stand, hat mit seinen gerade mal 25 Jahren seinen fünften Kinofilm abgeliefert. Aktuell ist sein Film Mommy, bei welchem er auch Regie geführt hat und das Drehbuch geschrieben, in den Kinos zu sehen. In drei seiner bisher fünf Filme, hat er neben Regie und Drehbuch, auch die Rolle des Hauptdarstellers besetzt. Unter Kritikern wird er gerne als Wunderkind bezeichnet, was ihn selbst aber ärgert, da er keine Labels mag. Schliesslich ist er ja auch kein Kind mehr. Auf der anderen Seite fällt auch mir kein treffenderer Begriff, als Wunderkind, für ihn ein.
Aus der Luftperspektive verfolgen wir am Anfang eine Straße, welche gradlinig gewaltig die Felder zerteilt, auf dieser Straße fährt Tom, auf dem Weg zu der Beerdigung seines Liebhabers und zu dessen Angehörigen und dessen Farm. Bei der Ankunft auf dem Hof, wird dieser in dichten Nebel getaucht, es wirkt beängstigend mysteriös, kein Ton ist zu hören, kein Leben zu sehen. Nach vergeblichem Klingeln, erkundet er zunächst den Hof, auf der Suche nach den Betreibern der Farm. Ausser Kühen, welche ihn mit ihren großen Augen anstarren, ist hier kein menschliches Leben auszumachen. Tom schläft in der Küche des Wohnhauses der Farm auf dem Küchentisch ein. Agathe (Lise Roy) wird ihm bei ihrer Heimkehr die folgende Frage stellen „Was machen Sie in meinem Haus?“. Er Antwortet „Tom, ich bin Tom!“. Agathe hat Tom weder erwartet, noch ist ihr bekannt, dass er der Lover ihres verstorbenen Sohnes ist. In einem nächtlichen Besuch macht der ältere Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal) unter Androhung von Gewalt Tom klar, dass es unbedingt Geheim bleiben muss, die gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung des verstorbenen Bruders zu Tom.
Eigentlich währe dieser Film nach der Trauerfeier vorbei gewesen, hätte Tom nicht mit dem Vortrag seiner Trauerrede gekniffen. Seine bewegenden Worte sollten Agathe glücklich machen, und damit währe er entlassen und entlastet gewesen, oder sagen wir besser, alle Vergangenheit ist unter der Erde und sehr schlimme Dinge würden für immer vergessen sein. Auf dem Hof gibt es eine dunkle Geschichte zu ergründen. Niemand möchte darüber sprechen, niemand ! Tom muss bleiben, er ist dem Bruder Francis etwas schuldig, für sein Versagen bei der Trauerfeier, welches Agathe sehr enttäuscht hat.
„Hier hat sich etwas sehr Schlimmes zugetragen“, das sind Gedanken, welche einem sofort durch den Kopf gehen, kommt man mit Tom auf der Farm an. Eine Farm, welche in das Düster des Nebels getaucht ist. Fasst möchte man meinen, man hätte diese Gedanken, mit dem Dialekt gesprochen gehört, mit dem Alfred Hitchcock in deutscher Sprache ein Filmset beschreibt. Man erinnert sich aber auch an die Worte von Tom „Jetzt, ohne dich, ist alles was uns bleibt, dich zu ersetzen“. Ein Satz, welchen man dringend im Kopf behalten sollte.
Zunächst habe ich mich schon in den ersten Minuten gefragt, warum kaut Tom an den Fingernägeln. Der Grund für Fingernägel kauen verursacht sich durch Nervosität, Langeweile, Gewohnheit und Angst. Nervosität und Angst, Angst als Homosexueller die Fassade zu verlieren, scheint hierbei der wichtigste Aspekt zu sein.
Es geht in dem Film primär um die Fassade welches der eigene Körper bildet, gesteuert durch das Gehirn. In jedem Menschen gibt es ein Unterbewusstsein, ein zweiter Mensch im eigenen Körper, welcher eine unglaubliche Macht aber auch Zerstörungskraft hat, und auch das Verlangen nach Zärtlichkeit. Im Falle des Bruders Francis ist es so, er versucht mit Gewalt seine Fassade zu wahren, der Mutter zu Liebe. Die entscheidende Szene in diesem Film ist ein Tango, Francis hat Drogen genommen, und zack, sein Unterbewusstsein übernimmt seinen Körper.
Die Mutter Agathe ist ebenfalls eine Rolle, bei dem der Erhalt der eigenen Fassade unglaublich tiefgreifend auch auf uns Alle reflektiert. Mit Agathe fühlt es sich so an, wie bei den drei Affen „Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen“. Und man glaube an dieser Stelle nur, sie kennt natürlich das Geheimnis von Francis, ihrem Sohn, und auch was passiert, wenn sich seine Wut des immer wahren der eigenen Fassade, dem Verstecken des eigen unterbewussten Inneren-Mentalkörpers, entlädt. Es wird nicht einmal erwähnt, angesprochen oder bebildert, was sich neben dem schrecklichen Ereignis noch täglich an dieser Farm abgespielt haben muss, in den Mauern des scharfen Maisfeldes. Jeder kann es aber nach dem Film fühlen.
Ein erschütternd ehrlicher Film, über die menschlichen Fassaden. Virtuos magisch komponiert, mit den Instrumenten Bild, Ton und Sprache, und der Angst vor dem Gespräch und der Kraft mit dem zweiten inneren Körper in jedem Menschen, dem Unterbewusstsein – das ist dieser Film von Xavier Dolan, ein Meisterwerk. Das Selbstbewusstsein von Xavier Dolan, vor und hinter der Kamera, es ist schlicht einfach atemberaubend, mit langem Nachhall im Gehirn. Der Wunderlockenkopf Xavier Dolan
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